Desinteresse? Oder doch etwas zu verheimlichen?

Am 22. Oktober 2020 richteten wir eine Anfrage an die Diakonie Bamberg, bzw. dessen Leiter Dr. Norbert Kern.

Wir baten ihn höflich um Hilfe bei der Beantwortung einiger Fragen bezüglich des ehemaligen Erziehungsheim „Voccawind“

„Voccawind“

1948 errichtete die Innere Mission das Erziehungsheim auf dem Zeilberg, das 1954 erweitert wurde und bis in die 1970er Jahre bestand. Es hatte etwa 50 Plätze für Jugendliche ab 14 Jahren. Diese mussten unter anderem im Basaltsteinbruch arbeiten.

Warum die Anfrage an die Diakonie Bamberg?
Die Innere Mission und das nach 1945 gegründete „Hilfswerk der Evangelische Kirche Deutschland schlossen sich ab 1957 in landeskirchlichen Werken zusammen. Diese waren also als Vorläufer der heutigen Diakonischen Werke für „Voccawind“ verantwortlich. 1975 wurden sie im Diakonischen Werk der EKD vereint.

Leiter-Diakonie-Bamberg

(Mit der Maus über den Brief fahren und den „Abwärts“-Knopf klicken um die 2. Seite des Briefes anzuzeigen)


Unsere Anfrage blieb leider unbeantwortet. Hätten wir (in weiser Voraussicht) den Brief nicht als Einschreiben abgeschickt, müssten wir uns wohl wundern, ob er den Empfänger je erreicht hat.

Da der Empfänger jedoch alle Regeln der Höflichkeit außer Acht ließ, haben wir uns nun entschlossen, das Schreiben an dieser Stelle zu veröffentlichen und gleichzeitig nachzufragen, woran dieser Mangels an höflichen Gepflogenheiten wohl liegen mag.

Wir fragen uns:
– Ist die Diakonie Bamberg nicht an ihrer Vergangenheit interessiert?
– Geht ihr das Schicksal der ehemaligen Heimkinder sonst wo vorbei?
– Oder gibt es eher doch etwas zu verbergen?

Voccawind – Prügel als Lebenshilfe

Bereits im Januar 1969 erschien der hier dokumentierte und durchaus kritische Beitrag im ZDF. Wer auch immer sagen mag: „Wir haben nichts gewusst“, lügt, verdrängt, schweigt. Bewusst!

Leider ist es uns nicht gelungen, den Filmbeitrag zur Veröffentlichung auf unserer Seite zu bekommen. Aber dank Martin Mitchells Hartnäckigkeit und Verhandlungsgeschick haben wir zumindest den Text des Beitrages nebst An- und Abmoderation erhalten.

Mangels Filmmaterial haben wir uns erlaubt, einige Bilder aus Voccawind beizufügen.

Anmoderation Voccawind
Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, dass vor kurzem ein junger Mensch im Minenfeld der Zonengrenze fast verblutet wäre. Er war auf der Flucht – auf einer Flucht aus einem Jugendheim in Bayern. Wir fragten uns, wie es dort wohl zugehen müsse, wenn ein Heranwachsender einen so schwerwiegenden Entschluss fasst, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um seinen Erziehern zu entkommen.

Prügel als Lebenshilfe
Autor: Klaus Budzinski
Kamera: Rudolf Gigl
Schnitt: Michael Palme
Sendung: 8. Januar 1969, Länge: 11:04

Oberhalb des Dörfchens Voccawind im nördlichen Unterfranken liegt, abgeschieden durch Berg und Wald, knapp 4 Kilometer von der Zonengrenze entfernt, das Jugendheim „Voccawind“. Erbaut wurde das Heim 1948 von der Inneren Mission Bamberg, die es bis heute betreibt.

„Voccawind“ ist ein Heim für Schwererziehbare.
Das schmucke Äußere des Heims täuscht. „Voccawind“ ist ein Heim für Schwererziehbare. Hierher überweisen die Jugendämter im ganzen Bundesgebiet schwierige Fälle – 16 bis 20-jährige, die hier, wie es offiziell heisst, „in normale Lebens- und Arbeitsverhältnisse“ eingegliedert werden sollen; eine Aufgabe, die selten erfüllt wird. Günter Oppermann ist nur einer von vielen Zöglingen, die aus „Voccawind“ weggelaufen sind. Jetzt hat auch ein Erzieher die Anstalt verlassen.

Hans Gawrikow arbeitet heute bei der Stadtmission Nürnberg, weil in „Voccawind“ eine Grundregel verletzt wurde: Nach Vorschrift der Jugendämter und der Inneren Mission dürfen Zöglinge in Heimen nicht geschlagen werden.

Kurz nachdem Gawrikow gekündigt hatte, wurde ein weiterer Arbeitsvertrag gelöst, und zwar der der Heimköchin Ursula Mühlhaus. Auch sie war Zeuge zweier Misshandlungen.

1948 gab es hier nur einen Steinbruch.
Er bot Arbeitsmöglichkeit – damals eine Seltenheit. So baute die Innere Mission hier ein Durchgangslager für streunende Minderjährige. Diese Einöde war nicht dazu angetan, qualifizierte Erzieher anzulocken. Die Mehrzahl hat keine oder keine ausreichende pädagogische Vorbildung aufzuweisen.

Nach den Richtlinien des bayrischen Innenministeriums werden im Heim nur solche Jugendliche aufgenommen, „die für eine Berufsausbildung nicht mehr in Frage kommen“. Statt Berufsausbildung wird in „Voccawind“ das betrieben, was im amtlichen Sprachgebrauch „Arbeitserziehung“ heisst. Das bedeutete 1964 Schwerarbeit im Steinbruch. Heute ist der Steinbruch voll mechanisiert…

Heute verrichten die Jugendlichen Hilfsarbeit in einer Kugellagerfabrik in Ebern und in einem Kunststoffwerk in Coburg – unter Aufsicht eines Erziehers. Der Arbeitslohn wird auf ein Konto des Heims überwiesen. Davon werden zum Teil die Heimkosten bestritten. Auf die Hand bekommt jeder pro Woche 5 Mark Taschengeld und für 3 Mark Tabakwaren. Je nach Leistung wird ihnen eine sogenannte „Arbeitsprämie“ – monatlich um 100 Mark – gutgeschrieben.

Eine gehobene handwerkliche Ausbildung erhalten sie auch hier nicht. „Voccawind“ bleibt ein Sammelbecken für solche Jugendliche, vor denen die Gesellschaft kapituliert. Eine der Folgen: politischer Protest.

Mädchen an der Wand sind erlaubt, Mao nicht. Sicher, Schötz hat an seinen bisherigen Lehr- und Arbeitsstellen versagt; aber ist „Voccawind“ auch dazu da, politische Anschauungen zu wandeln?

Das Jugendamt der Stadt Nürnberg hat die Einweisung des Jungen nach „Voccawind“ unter anderem mit folgendem Satz begründet: „Durch die Verlegung des Jugendlichen nach auswärts erhoffen die Eltern in der neuen Umgebung einen Wandel ihres Sohnes in seinen Ansichten, und vor allem soll sein Arbeitswille gestärkt werden.“

Was bei Schötz zweifelhaft gewesen sein mag, ob er nach „Voccawind“ gehörte, muss bei einem anderen entschieden verneint werden: Günter Oppermann. Er, der nach seiner Flucht im Minengürtel der Zonengrenze ein Bein verlor, hatte sich wegen zerrütteter häuslicher Verhältnisse hilfesuchend an das Jugendamt Braunschweig gewandt. Dieses schickte ihn nach „Voccawind“. Dort kam er zusammen mit Straffälligen, deren Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Eine gefährliche Methode: Millieugeschädigte mit straffällig Gewordenen zusammenzulegen.

In „Voccawind“ herrscht ein strenges Regiment.
Wer sich nicht bedingungslos unterordnet, muss damit rechnen, tagelang in eine der 7 Arrestzellen gesperrt zu werden. Oder er wird verprügelt, sogar am Arbeitsplatz. Prügel als Lebenshilfe. Wer sich beschweren will, kommt nicht weit: der Heimleiter nimmt sich das Recht, die Post der Zöglinge zu öffnen.

Leider lehnte es der Verantwortliche bei der Inneren Mission Bamberg, Herr Bonacker, ab, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Er verwies lediglich auf einen Bericht, den die Regierung von Unterfranken angefordert hat. Darin konnte der die Vorwürfe im wesentlichen nicht entkräften. Am Schluss heisst es: „Die Durchsetzungskraft des Erziehers ist deshalb zu einer Kernfrage geworden“.

Am 1. Januar trat an Stelle von Gawrikow ein neuer Erzieher. Wie die Mehrzahl seiner Kollegen wird auch er sich ohne staatliche Anerkennung „durchsetzen“ müssen.

Abmoderation Voccawind
Ist das die Lösung? Bedeutet das nicht Kapitulation? Auch wenn es sich um Schwererziehbare handelt – oder besser gerade dann – muss alles versucht werden, ihnen doch noch zu helfen. Für mich gilt der Satz: Gesellschaft wird danach beurteilt, wie sie sich zu ihren schwächsten Gliedern verhält. Hier haben wir einen schwarzen Fleck gezeigt – er sollte schnellstens weggeputzt werden.