Erklärung Ehemaliger Heimkinder zum Medikamentenmissbrauch

Wie ja sicher alle mitbekommen haben, konnte durch die Forschung von Dr. Sylvia Wagner bewiesen werden, dass Medikamentenversuche an Heimkindern durchgeführt wurden. Die Forschungen von Frau Dr. Wagner sind inzwischen veröffentlicht worden und der VEH hat hierzu eine Erklärung verfasst, die Sie hier lesen können:

Erklärung Ehemaliger Heimkinder zum Medikamentenmissbrauch
Seit mehr als 200 Jahren werden Heimkinder für medizinische und pharmazeutische Versuche missbraucht. Im 18. Jahrhundert wurde das Verfahren der Pockenschutzimpfung entwickelt, an Heimkindern. Seitdem mussten sie immer wieder zur Entwicklung und Prüfung von Impfstoffen und Arzneimitteln herhalten. Sie waren verfügbar, konnten keine Gegenwehr leisten und Eltern, die sie hätten beschützen können, waren nicht vor Ort. Als in den 1950er bis 1970er Jahren Arzneimittel im großen Maßstab erforscht und entwickelt wurden, die BRD galt als „Apotheke der Welt“, mussten wieder Heimkinder für die Prüfung von Substanzen herhalten.

Wir Heimkinder wurden nicht gefragt, aber jetzt antworten wir!
Als Säuglinge konnten wir uns nicht äußern, als Heranwachsende wurden wir nicht gefragt. Wehrten wir uns, die Pillen zu schlucken, wurden wir gezwungen. Auch unsere Eltern wurden nicht gefragt. Dies war gängige Praxis. Dabei gilt bereits seit über hundert Jahren, dass eine Verabreichung von Arzneimitteln ohne Einwilligung den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Im Jahre 1900 gab es zudem erstmals eine Anweisung, dass Versuche am Menschen nur mit einer eindeutigen Zustimmung der betreffenden Person durchgeführt werden durften. Seitdem wurden weitere rechtliche und ethische Vorschriften erlassen, die ebenfalls u. a. eine Zustimmung zu Versuchen forderten. Eine solche Zustimmung hat es von Heimkindern jedoch nie gegeben!

Wir wurden benutzt, allein gelassen, wir waren sogar billiger als Versuchstiere.
Man hat gut an uns verdient. Nachdem die Mittel an uns getestet wurden, mussten wir sie, v. a. Psychopharmaka und triebhemmende Mittel, zum Teil sogar über Jahre schlucken. Meistens wussten wir selbst nicht, was mit uns geschah. Entweder weil wir zu klein waren oder weil wir unwissend gehalten wurden. Äußerten wir doch einmal die Vermutung, dass an uns Medikamente erprobt wurden, schenkte man uns keinen Glauben (s. Abschlussbericht RTH 2010).

Aber jetzt werdet Ihr nicht mehr weghören können! Und heute erklären wir:
Wir haben den Versuchen niemals zugestimmt, wir hätten den Versuchen niemals zugestimmt und wir stimmen den Versuchen auch rückblickend nicht zu! Wir verurteilen die Versuche! Hört auf, Kinder, die keinen Nutzen davon haben, die keine Eltern haben, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, für Eure Zwecke zu missbrauchen! Weder in Deutschland, noch in Europa, noch in „Entwicklungs- oder Schwellenländern“, noch sonstwo! Nie wieder!

Nicht einmal habt Ihr Euch bei uns entschuldigt, uns an Eurem Gewinn beteiligt, uns für das Leid entschädigt. Monate- und jahrelang mussten wir Eure Pillen schlucken. Wie konntet Ihr es wagen?

Wir haben es satt! Kommt uns nicht mit unaufrichtigen Mitleidsbekundungen! Wir verlangen eine ernsthafte, unabhängige Aufarbeitung, eine angemessene Entschädigung unter Beteiligung aller verantwortlichen Institutionen und Organisationen, die Anerkennung der Praktiken als Menschenrechtsverletzungen sowie den Schutz Heranwachsender vor derartigen Praktiken.

Wir werden es nicht mehr zulassen, wir sind hier!

Angemessene Entschädigung für alle Opfer sexueller Gewalt und ehemalige Heimkinder! Jetzt!

Das Bittbuch in der Kapelle Simetsbichl © Ivo Mayr/CORRECTIV

Diese herzzerreißende Bitte, in krakeliger Kinderschrift in einem Bittbuch, hat uns auf eine Idee gebracht: Lasst uns einmal (!) mehr in alle möglichen Kirchen, Dome, Kapellen gehen und in den ausliegenden Bittbüchern das schreiben, was wir von der Kirche verlangen:

Angemessene Entschädigung
für alle Opfer
sexueller Gewalt und ehemalige Heimkinder! Jetzt!

Lasst uns diesen Aufschrei verbreiten – in Deutschland, in Europa, weltweit!

Voccawind – Prügel als Lebenshilfe

Bereits im Januar 1969 erschien der hier dokumentierte und durchaus kritische Beitrag im ZDF. Wer auch immer sagen mag: „Wir haben nichts gewusst“, lügt, verdrängt, schweigt. Bewusst!

Leider ist es uns nicht gelungen, den Filmbeitrag zur Veröffentlichung auf unserer Seite zu bekommen. Aber dank Martin Mitchells Hartnäckigkeit und Verhandlungsgeschick haben wir zumindest den Text des Beitrages nebst An- und Abmoderation erhalten.

Mangels Filmmaterial haben wir uns erlaubt, einige Bilder aus Voccawind beizufügen.

Anmoderation Voccawind
Sie erinnern sich, meine Damen und Herren, dass vor kurzem ein junger Mensch im Minenfeld der Zonengrenze fast verblutet wäre. Er war auf der Flucht – auf einer Flucht aus einem Jugendheim in Bayern. Wir fragten uns, wie es dort wohl zugehen müsse, wenn ein Heranwachsender einen so schwerwiegenden Entschluss fasst, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um seinen Erziehern zu entkommen.

Prügel als Lebenshilfe
Autor: Klaus Budzinski
Kamera: Rudolf Gigl
Schnitt: Michael Palme
Sendung: 8. Januar 1969, Länge: 11:04

Oberhalb des Dörfchens Voccawind im nördlichen Unterfranken liegt, abgeschieden durch Berg und Wald, knapp 4 Kilometer von der Zonengrenze entfernt, das Jugendheim „Voccawind“. Erbaut wurde das Heim 1948 von der Inneren Mission Bamberg, die es bis heute betreibt.

„Voccawind“ ist ein Heim für Schwererziehbare.
Das schmucke Äußere des Heims täuscht. „Voccawind“ ist ein Heim für Schwererziehbare. Hierher überweisen die Jugendämter im ganzen Bundesgebiet schwierige Fälle – 16 bis 20-jährige, die hier, wie es offiziell heisst, „in normale Lebens- und Arbeitsverhältnisse“ eingegliedert werden sollen; eine Aufgabe, die selten erfüllt wird. Günter Oppermann ist nur einer von vielen Zöglingen, die aus „Voccawind“ weggelaufen sind. Jetzt hat auch ein Erzieher die Anstalt verlassen.

Hans Gawrikow arbeitet heute bei der Stadtmission Nürnberg, weil in „Voccawind“ eine Grundregel verletzt wurde: Nach Vorschrift der Jugendämter und der Inneren Mission dürfen Zöglinge in Heimen nicht geschlagen werden.

Kurz nachdem Gawrikow gekündigt hatte, wurde ein weiterer Arbeitsvertrag gelöst, und zwar der der Heimköchin Ursula Mühlhaus. Auch sie war Zeuge zweier Misshandlungen.

1948 gab es hier nur einen Steinbruch.
Er bot Arbeitsmöglichkeit – damals eine Seltenheit. So baute die Innere Mission hier ein Durchgangslager für streunende Minderjährige. Diese Einöde war nicht dazu angetan, qualifizierte Erzieher anzulocken. Die Mehrzahl hat keine oder keine ausreichende pädagogische Vorbildung aufzuweisen.

Nach den Richtlinien des bayrischen Innenministeriums werden im Heim nur solche Jugendliche aufgenommen, „die für eine Berufsausbildung nicht mehr in Frage kommen“. Statt Berufsausbildung wird in „Voccawind“ das betrieben, was im amtlichen Sprachgebrauch „Arbeitserziehung“ heisst. Das bedeutete 1964 Schwerarbeit im Steinbruch. Heute ist der Steinbruch voll mechanisiert…

Heute verrichten die Jugendlichen Hilfsarbeit in einer Kugellagerfabrik in Ebern und in einem Kunststoffwerk in Coburg – unter Aufsicht eines Erziehers. Der Arbeitslohn wird auf ein Konto des Heims überwiesen. Davon werden zum Teil die Heimkosten bestritten. Auf die Hand bekommt jeder pro Woche 5 Mark Taschengeld und für 3 Mark Tabakwaren. Je nach Leistung wird ihnen eine sogenannte „Arbeitsprämie“ – monatlich um 100 Mark – gutgeschrieben.

Eine gehobene handwerkliche Ausbildung erhalten sie auch hier nicht. „Voccawind“ bleibt ein Sammelbecken für solche Jugendliche, vor denen die Gesellschaft kapituliert. Eine der Folgen: politischer Protest.

Mädchen an der Wand sind erlaubt, Mao nicht. Sicher, Schötz hat an seinen bisherigen Lehr- und Arbeitsstellen versagt; aber ist „Voccawind“ auch dazu da, politische Anschauungen zu wandeln?

Das Jugendamt der Stadt Nürnberg hat die Einweisung des Jungen nach „Voccawind“ unter anderem mit folgendem Satz begründet: „Durch die Verlegung des Jugendlichen nach auswärts erhoffen die Eltern in der neuen Umgebung einen Wandel ihres Sohnes in seinen Ansichten, und vor allem soll sein Arbeitswille gestärkt werden.“

Was bei Schötz zweifelhaft gewesen sein mag, ob er nach „Voccawind“ gehörte, muss bei einem anderen entschieden verneint werden: Günter Oppermann. Er, der nach seiner Flucht im Minengürtel der Zonengrenze ein Bein verlor, hatte sich wegen zerrütteter häuslicher Verhältnisse hilfesuchend an das Jugendamt Braunschweig gewandt. Dieses schickte ihn nach „Voccawind“. Dort kam er zusammen mit Straffälligen, deren Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist. Eine gefährliche Methode: Millieugeschädigte mit straffällig Gewordenen zusammenzulegen.

In „Voccawind“ herrscht ein strenges Regiment.
Wer sich nicht bedingungslos unterordnet, muss damit rechnen, tagelang in eine der 7 Arrestzellen gesperrt zu werden. Oder er wird verprügelt, sogar am Arbeitsplatz. Prügel als Lebenshilfe. Wer sich beschweren will, kommt nicht weit: der Heimleiter nimmt sich das Recht, die Post der Zöglinge zu öffnen.

Leider lehnte es der Verantwortliche bei der Inneren Mission Bamberg, Herr Bonacker, ab, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Er verwies lediglich auf einen Bericht, den die Regierung von Unterfranken angefordert hat. Darin konnte der die Vorwürfe im wesentlichen nicht entkräften. Am Schluss heisst es: „Die Durchsetzungskraft des Erziehers ist deshalb zu einer Kernfrage geworden“.

Am 1. Januar trat an Stelle von Gawrikow ein neuer Erzieher. Wie die Mehrzahl seiner Kollegen wird auch er sich ohne staatliche Anerkennung „durchsetzen“ müssen.

Abmoderation Voccawind
Ist das die Lösung? Bedeutet das nicht Kapitulation? Auch wenn es sich um Schwererziehbare handelt – oder besser gerade dann – muss alles versucht werden, ihnen doch noch zu helfen. Für mich gilt der Satz: Gesellschaft wird danach beurteilt, wie sie sich zu ihren schwächsten Gliedern verhält. Hier haben wir einen schwarzen Fleck gezeigt – er sollte schnellstens weggeputzt werden.