Sylvia Wagner ist bei Nonnen und in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Als erwachsene Pharmazeutin hat sie aufgedeckt, dass Medikamente bis in die Siebzigerjahre an Heimkindern und „milieugeschädigten“ Jugendlichen getestet wurden. Davon betroffen war auch ihr eigener Bruder.
Einen großen Stapel Dokumente hatte sich Sylvia Wagner an jenem Tag aus dem Archiv des Pharmaunternehmens Merck in den Lesesaal kommen lassen. Es würde wieder einige Stunden dauern, sich durch die ohne klare Ordnung abgelegte Korrespondenz der Firma mit Behörden und Instituten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren zu arbeiten. Bald aber stieß Wagner, selbst Pharmazeutin, auf Unterlagen, in denen es um die Prüfung neuer Medikamente in Heimen, Kliniken oder Psychiatrien an „schwer erziehbaren“ oder als „schwachsinnig“ abgestempelten Kindern und Jugendlichen ging. Seitenlang berichteten die Anstaltsmediziner über die angeblich gute Wirkung der erprobten Medikamente. Die Heranwachsenden seien wesentlich ruhiger oder durch die Sedierung überhaupt erst zugänglich für eine Psychotherapie. (Zum Lesen des ganzen Artikels, hier klicken)
Wie ja sicher alle mitbekommen haben, konnte durch die Forschung von Dr. Sylvia Wagner bewiesen werden, dass Medikamentenversuche an Heimkindern durchgeführt wurden. Die Forschungen von Frau Dr. Wagner sind inzwischen veröffentlicht worden und der VEH hat hierzu eine Erklärung verfasst, die Sie hier lesen können:
Erklärung Ehemaliger Heimkinder zum Medikamentenmissbrauch Seit mehr als 200 Jahren werden Heimkinder für medizinische und pharmazeutische Versuche missbraucht. Im 18. Jahrhundert wurde das Verfahren der Pockenschutzimpfung entwickelt, an Heimkindern. Seitdem mussten sie immer wieder zur Entwicklung und Prüfung von Impfstoffen und Arzneimitteln herhalten. Sie waren verfügbar, konnten keine Gegenwehr leisten und Eltern, die sie hätten beschützen können, waren nicht vor Ort. Als in den 1950er bis 1970er Jahren Arzneimittel im großen Maßstab erforscht und entwickelt wurden, die BRD galt als „Apotheke der Welt“, mussten wieder Heimkinder für die Prüfung von Substanzen herhalten.
Wir Heimkinder wurden nicht gefragt, aber jetzt antworten wir! Als Säuglinge konnten wir uns nicht äußern, als Heranwachsende wurden wir nicht gefragt. Wehrten wir uns, die Pillen zu schlucken, wurden wir gezwungen. Auch unsere Eltern wurden nicht gefragt. Dies war gängige Praxis. Dabei gilt bereits seit über hundert Jahren, dass eine Verabreichung von Arzneimitteln ohne Einwilligung den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Im Jahre 1900 gab es zudem erstmals eine Anweisung, dass Versuche am Menschen nur mit einer eindeutigen Zustimmung der betreffenden Person durchgeführt werden durften. Seitdem wurden weitere rechtliche und ethische Vorschriften erlassen, die ebenfalls u. a. eine Zustimmung zu Versuchen forderten. Eine solche Zustimmung hat es von Heimkindern jedoch nie gegeben!
Wir wurden benutzt, allein gelassen, wir waren sogar billiger als Versuchstiere. Man hat gut an uns verdient. Nachdem die Mittel an uns getestet wurden, mussten wir sie, v. a. Psychopharmaka und triebhemmende Mittel, zum Teil sogar über Jahre schlucken. Meistens wussten wir selbst nicht, was mit uns geschah. Entweder weil wir zu klein waren oder weil wir unwissend gehalten wurden. Äußerten wir doch einmal die Vermutung, dass an uns Medikamente erprobt wurden, schenkte man uns keinen Glauben (s. Abschlussbericht RTH 2010).
Aber jetzt werdet Ihr nicht mehr weghören können! Und heute erklären wir: Wir haben den Versuchen niemals zugestimmt, wir hätten den Versuchen niemals zugestimmt und wir stimmen den Versuchen auch rückblickend nicht zu! Wir verurteilen die Versuche! Hört auf, Kinder, die keinen Nutzen davon haben, die keine Eltern haben, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, für Eure Zwecke zu missbrauchen! Weder in Deutschland, noch in Europa, noch in „Entwicklungs- oder Schwellenländern“, noch sonstwo! Nie wieder!
Nicht einmal habt Ihr Euch bei uns entschuldigt, uns an Eurem Gewinn beteiligt, uns für das Leid entschädigt. Monate- und jahrelang mussten wir Eure Pillen schlucken. Wie konntet Ihr es wagen?
Wir haben es satt! Kommt uns nicht mit unaufrichtigen Mitleidsbekundungen! Wir verlangen eine ernsthafte, unabhängige Aufarbeitung, eine angemessene Entschädigung unter Beteiligung aller verantwortlichen Institutionen und Organisationen, die Anerkennung der Praktiken als Menschenrechtsverletzungen sowie den Schutz Heranwachsender vor derartigen Praktiken.
Versuchskaninchen Heimkind Ein Film von Daniela Schmidt-Langels
Es ist ein Skandal, der lange verschwiegen wurde: Seit Beginn der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre werden Kinder und Jugendliche in Heimen und Psychiatrien Opfer von Ärzten und Pharmakonzernen: Sie werden mit Medikamenten ruhiggestellt, für medizinische Versuchsreihen missbraucht sowie schmerzhafen und schon damals umstritenen Diagnoseverfahren unterzogen. Bis heute leiden viele von ihnen unter den Folgen.
Heime, Ärzte und Pharmakonzerne In den Wirtschafswunderjahren wird die glückliche Kleinfamilie zum gesellschaflichen Idealbild. Verhaltensaufällige Kinder sowie Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen dagegen werden of in völlig überfüllte Heime und Psychiatrien abgeschoben, wo sie weitgehend von der Außenwelt abgeschotet und of einer autoritären Erziehung ausgeliefert sind. In vielen Heimen werden Kinder mit Medikamenten vollgepumpt, damit sie ruhiggestellt werden. Doch damit nicht genug: In Zusammenarbeit mit Pharmakonzernen nutzen Ärzte die Situaton in solchen Einrichtungen aus, um auch neue Medikamente und Behandlungsmethoden auszuprobieren – und verstoßen dabei gegen schon damals geltende fachliche und ethische Standards. Nicht wenige der Ärzte sind in die Verbrechen der Natonalsozialisten wie den Mord an körperlich und geistg behinderten Kindern verstrickt gewesen.
Spurensuche mit Opfern Gemeinsam mit der Tochter und Enkelin von beteiligten Ärzten und drei ehemaligen Heimkindern begibt sich der Film auf Spurensuche. Durch die sehr persönlichen Schilderungen von ihren Qualen und den Folgen der Behandlungsmethoden öfnet der Film immer wieder neue Türen in die Geschichte der Heimerziehung und der Kinder- und Jugendpsychiatrie und deckt die Verfechtungen zwischen Ärzten und Pharmakonzernen im Nachkriegsdeutschland auf. Historiker und Experten erklären, warum es möglich war, dass Ärzte auch um ihrer Karriere und ihrer fnanziellen Vorteile willen an wehrlosen Opfern forschen konnten.
Jahrzehntelang werden Medikamente an Heimkindern getestet. Heute kämpfen sie mit den Spätfolgen des Missbrauchs.
Pillen, Säfte, Spritzen: Für Heimkinder in den alten Bundesländern jahrzehntelang Alltag. Von den 50er bis in die 70er Jahren wurden sie systematisch für Medikamententests missbraucht. Vor allem beruhigend wirkende Psychopharmaka, triebhemmende Präparate und Substanzen, die heute gegen Demenz eingesetzt werden, mussten die Kinder unter Zwang nehmen. Ohne ein Wort dazu, dass es sich teilweise um Studien noch unerforschter Medikamente handelte. Mit verheerender Wirkung: aus gesunden Kindern werden kranke Erwachsene.
Der Pharmakonzern Merck, der u.a. in Essen große Mengen Arzneimittel für das Franz-Sales-Haus bereitgestellt hat, schiebt bis heute die Verantwortung von sich. Die Geschädigten wurden damals wie heute mit den Folgen allein gelassen. Wie konnte es zu dem organisierten Missbrauch kommen? So kurz nach den Nürnberger Prozessen? Und wer trägt die Verantwortung für die Schäden, die die Kinder erlitten haben?
Wir sprechen mit der Pharmazeutin und Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner. Sie hat 2016 den Skandal öffentlich gemacht, wie tausende Kinder als Versuchskaninchen herhalten mussten.
Sylvia Wagner ist gebürtige Essenerin. Nach dem Pharmaziestudium an der Westfälischen Wilhelms Universität in Münster erfolgt 1995 die Approbation als Apothekerin. Seit ca. 2015 widmet sie sich wissenschaftlich dem Thema der Arzneimittelprüfungen an Heimkindern im Rahmen einer Promotion, die sie 2019 erfolgreich abschließt.
Datum Und Uhrzeit Do. 23. Januar 2020 19:00 Uhr – 20:30 Uhr MEZ
Veranstaltungsort Der CORRECTIV Buchladen Akazienallee 10 45127 Essen Germany